Die Rysumer Kirche – ein neu entdeckter Schatz

Die Zahl der Besucher Rysums wird Jahr für Jahr größer. Unser wunderschönes Rundwarfendorf fasziniert immer mehr Menschen. Sie entdecken den idyllischen Reiz der besonders gut erhaltenen historischen Anlage des Dorfes auf der Rundwarf und bestaunen die Leidenschaft der Rysumer, ihr historisches Erbe zu bewahren. Rysum gilt als die am besten erhaltene Rundwurtensiedlung an der deutschen Nordseeküste und wird als solche in zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen als Musterbeispiel eines solchen Dorftyps in der Marsch aufgeführt.[1]

Die meisten Besucher kommen zunächst wegen der Orgel in unser Dorf. Sie gilt als die älteste bespielbare und in ihrem Grundbestand erhaltene Orgel Deutschlands, vielleicht sogar Europas und außerhalb Europas ist keine so gut erhaltene und bespielbare Orgel bekannt.[2] Nirgendwo sonst auf der Welt kann die Orgelmusik des 15. und frühen 16. Jahrhunderts so authentisch dargestellt werden wie in Rysum. Damit stellt unsere Orgel ein Kulturerbe von Weltrang dar. Aus aller Welt bis hin nach Amerika und Asien kommen daher Orgelexperten, Musiker, Studenten und Reisegruppen um den einmaligen Klang dieser gotischen Orgel zu erleben.

Bis zum Beginn der Renovierungsarbeiten in der Kirche waren den Einwohnern und Besuchern Rysums also bislang nur die Orgel und die historische Ortsanlage von geschichtlicher Bedeutung. Die Rysumer Kirche selbst wurde bis dahin dem 15. Jahrhundert zugeordnet und galt damit im Vergleich zu den vielen anderen alten Kirchen der Krummhörn und Ostfrieslands als relativ junge und architekturgeschichtlich unbedeutende Kirche. Für die Einwohner Rysums konzentrierte sich die geschichtliche Erinnerung auf die restaurierte Mühle. Doch die Neuentdeckungen in der Rysumer Kirche geben diesem zweiten Wahrzeichen des Ortes nun seine wahre Bedeutung zurück und zeigen auch den geschichtlichen Zusammenhang der bedeutenden Orgel.

1. Der Beginn der Entdeckungen

Die Entdeckungen begannen 1996 im Erdgeschoss des Turms unserer Kirche. 1993 hatte die Kirchengemeinde ihren ersten Antrag im Hinblick auf eine umfassende Kirchenrestaurierung an die Ev.-ref. Kirche gestellt. 1996 fanden der damalige Pastor Jan Lüken Schmid, der Baubeauftragte Johannes Franssen und weitere Mitglieder des Kirchenrates bei einer Baubegehung im Heizungsraum in der Wand vermauert eine der Säulen der jetzt freigelegten wunderbaren frühgotischen Wandgliederung. Statische Probleme hatten es in früheren Jahrhunderten wohl notwendig gemacht, dieses herrliche Ensemble zu vermauern, um dadurch eine höhere Wandstabilität zu erreichen. Niemand in Rysum wusste bis zu dieser Zeit davon, was sich in der dicken Turmmauer verbarg. Dieser Fund warf ein ganz neues Licht auf die Geschichte der Rysumer Kirche und beförderte die Bestrebungen zu einer grundlegenden Kirchenrenovierung und –restaurierung.

Folkhard Cremer, Antje Busch-Sperveslage, Hermann Haiduck und das Architekturbüro Angelis + Partner untersuchten den Befund. Im Emder Jahrbuch für historische Landeskunde Ostfrieslands aus dem Jahr 2000 besprach Haiduck erstmals die Rekonstruktion.[3] 2001 begannen die Renovierungsarbeiten in der Kirche und im Jahr 2008 wurde dieses rekonstruierte filigrane Ensemble erstmals der Öffentlichkeit in der rekonstruierten Farbgebung des 13. Jahrhunderts zugänglich.

2. Neue Entdeckungen zur Datierung der Kirche und zum Ursprung des Ortes

Gegenüber der üblichen Spätdatierung der Rysumer Kirche in das 15. Jahrhundert ergab dieser Fund eine Neuorientierung: Dieser wunderbare Raum wurde bereits im 13. Jahrhundert errichtet. Doch wie in der Mauer des Kirchenschiffs aus dem 15. Jahrhundert geschah bereits dies unter Verwendung älterer Tuffsteine aus dem 12. Jahrhundert, wie deren Verwendung im Aufbau der Säulen aus dem 13. Jahrhundert zeigt. Dieser Befund macht deutlich: Die Rysumer hatten spätestens im 12. Jahrhundert eine große steinerne Kirche errichtet und damit in ihrer Mitte ein kraftvolles Symbol für die Verheißung ewiger Herrlichkeit geschaffen. Denn wie wir heute wissen, stand für das Aufkommen der Steinkirchen diese symbolische Bedeutung im Vordergrund.

Nachdem bei den Rekonstruktionsarbeiten im Turm vom Vorsitzenden Folkerts im Boden historische Fliesen und vom Pastorenehepaar Balder Knochen gefunden wurden nahm die Ostfriesische Landschaft eine archäologische Grabung vor. Dabei wurden sogar noch ältere Keramikscherben gefunden, sog. Muschelgrusware.[4] Die Scherben gehören in die Zeit um und vor 1000 und bestätigen das bislang angenommene Alter der Siedlung auch archäologisch. Denn im Verzeichnis der Klostereinkünfte des Klosters Werden/Ruhr [5] wird ein Ort Hrisinghem aufgeführt, der gemeinhin mit Rysum gleichgesetzt wird.[6] Die Aufnahme Rysums in dieses Verzeichnis der an das Kloster Werden/Ruhr abgabepflichtigen Ländereien zeigt, dass Rysum schon mit der frühen Missionierung der Friesen in Berührung gekommen ist. Da nicht anzunehmen ist, dass die Tuffsteinkirche des 12. Jahrhunderts die erste seit dem 9./10. Jahrhundert gebaute Kirche war, steht zu vermuten, dass spätestens im 11. Jahrhundert hier eine erste Kirche aus Holz stand. Bei der archäologischen Grabung wurde bei einer Sondierung direkt auf dem Untergrund der Warf ein Stück Holz gefunden, das diese These zwar nicht beweist, aber damit im Zusammenhang stehen könnte.[7]

Mit der Auffindung der frühgotischen Wandgliederung des 13. Jh´s im Turmerdgeschoss konnten auch im heutigen Kirchenschiff die vorhandenen Bauformen zeitlich neu eingeordnet werden. So erwies sich z.B. das Fenster südlich der Orgel als Bestandteil des alten Kirchenbaus aus dem 13. Jahrhundert. Im 15. Jahrhundert wurde also nicht – wie bislang angenommen – das ganze Kirchenschiff erneuert. Wahrscheinlich hatten sich Wandteile aufgrund des schwankenden Untergrunds verzogen und wurden teilweise neu aufgemauert. Rysum besaß also bereits im 13. Jahrhundert eine große Saalkirche.

Galt die Rysumer Kirche bislang als eine der jüngeren Kirchen der Krummhörn, wird nun deutlich: Ihre steinernen Anfänge reichen bis in das 12. Jh. zurück und mit einer zu vermutenden Holzkirche würde die Rysumer Wurt zur frühen Kirchenbaubewegung in Friesland gehören.[8] Vielleicht stand in Rysum die Kirche sogar schon immer mitten im Dorf. Zumindest in dem begrenzten Bereich der Kirchengrabung bestand der Aufwurf der Warf aus reinem Schlick. Eine Beimengung von Stalldung wie sie anderen Orts bekannt ist, hat sich hier nicht gezeigt. Kann dies als ein Anzeichen dafür gewertet werden, dass die Rundwarf von Rysum planmäßig und sozusagen in einem Guss angelegt worden ist? Ist der Name der Ortschaft dann vielleicht darauf zurück zu führen, dass Neusiedler im periodisch überfluteten von Riedpflanzen geprägten Gebiet des Küstensaums hier eine Siedlung errichtet haben? Waren es vielleicht von allem Anfang an christlich geprägte Siedler, die von vornherein ein Gemeinwesen mit der Kirche als Mittelpunkt errichtet haben – wie das die mit der Nennung im Klosterregister zeitgleichen ältesten Keramikfunde nahelegen könnten? Mit jedem Stück, das wir Neues aus der Geschichte Rysums erfahren, stellen sich umso mehr neue Fragen. Sicher ist aber: Der Kastenchor stammt aus dem 13. Jh., das Kirchenschiff wurde im 15. Jh. aus vorhandenem Material neu aufgemauert und der dabei verwendete Stein entstammt einer älteren Tuffsteinkirche, die im 12 Jahrhundert bereits die Mitte des Dorfes bildete.

3. Die Bedeutung des frühgotischen Kastenchores

Viele Jahrzehnte lang haben Kirchgänger und Besucher das Erdgeschoss des Turms nur beiläufig auf dem Weg in die Kirche durchschritten. Bis zur Renovierung befanden sich hier hinter Mauern aus den Sechzigerjahren eine Ölheizung und ein Heizöllager. Jetzt hat sich herausgestellt: Dieser so profan genutzte Raum war vom 13. Jahrhundert an bis hinein in die Reformationszeit sozusagen das „Allerheiligste“ der Rysumer Kirche. Es war kein Vorraum und kein Durchgangsraum, sondern ein viereckiger Altarraum, ein sogenannter Rechteck- oder Kastenchor.

Hoch oben unter der Decke dieses Raumes haben wir ein großes Spruchband gefunden. In großen Buchstaben wurde dort in einer Vorform des heutigen Niederländisch und „Plattdeutsch“ der Heilandsruf Jesu geschrieben: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Matth. 11, 28f).

Dieses Wort wurde im 16. Jahrhundert dort aufgemalt. Es gehört zur Einladung zum Abendmahl und zeigt: Noch nach der Reformation hat die Rysumer Gemeinde im mittelalterlichen Altarraum das Abendmahl gefeiert.

Dieser Befund ist für unsere reformiert geprägten Kirchgänger sehr erklärungsbedürftig. Die Messe, also das Abendmahl, wurde im Mittelalter wie heute in katholischen Kirchen mindestens jeden Sonntag gefeiert und häufig genug sogar noch mehrmals die Woche. Und das geschah auch hier in Rysum an einem Altar in diesem Kastenchor.

Das können Krummhörner Reformierte sich heute kaum noch vorstellen, wie wichtig den Menschen damals die Messe, bzw. das Abendmahl war. Sie wollten von Gott eben nicht nur etwas hören. Sie wollten Gott wirklich schmecken und in sich aufnehmen. Durch die Messoblate kam Gott ihnen in Jesus Christus sehr nahe. Das war ein ganz feierlicher und heiliger Moment. Selbst die einfachsten Menschen hatten Sehnsucht nach dieser Nähe Gottes in der Messe. Wenn sie krank waren und nicht in die Kirche gehen durften, schauten sie von außen durch spezielle Fenster zu oder bekamen die Messoblate durch einen Schlitz gereicht, durch ein Hagioskop oder die sogenannte Lepraspalte. Auch ein solches Hagioskop haben wir bei der Restaurierung im Kirchenschiff gefunden. Der Aufwand, der geleistet wurde, damit selbst Kranke die Messe empfangen konnten, zeigt: Das war der wichtigste Moment der ganzen Woche.

Im 13. Jahrhundert hatten die Rysumer diesen Raum für die Feier der Messe prächtig gestaltet. Prof. Kiesow von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz hat dieser besonderen Architektur im Turmraum unserer Kirche in der Zeitschrift Monumente im Jahr 2007 einen eigenen Artikel gewidmet.[9] Nach dem Vorbild der in der Normandie in Frankreich aufkommenden Gotik – vermittelt über den Dom von Osnabrück von 1218 - hat man den Rysumer Kastenchor wenige Jahrzehnte später ebenfalls aus Wänden errichtet, die jeweils durch drei große Fenster und drei vorspringende Säulen sehr viel Licht in den Raum gelassen haben.

Diese Architekturform liegt genau im Übergang von der Romanik zur Gotik: Die Fenster sind lang gezogen wie in der Gotik üblich; die Fensterbögen oben sind aber noch nicht spitz wie in der entwickelten Gotik. Der schmale Sims, der den Kopf der Fenster abgrenzt, erinnert noch deutlich an die Anfänge der kirchlichen Backsteinarchitektur in Spanien, die maurischen Vorbildern gefolgt war. In diesem Übergang zur Gotik können wir hier deutlich erkennen, wie die massive Wandform der romanischen Kirchen förmlich aufgelöst wurde. In der Normandie – z.B. auf dem berühmten Mont-Saint-Michel - hatte man in der Mitte des 11. Jh. s die Kenntnis der Spanten-Technik aus dem Schiffbau für dieses neue Baukonzept genutzt. Der zweischalige Wandaufbau ermöglichte diese filigrane Wandgestaltung, die mehr Licht in den Kirchenraum brachte.

Während die romanische Basilika im Kirchenbau einfach einen vorher bereits vorhandenen römischen Bautyp weitergeführt und weiter entwickelt hatte, entstand so in der Gotik eine Bauform, die bereits in der Konstruktion grundlegend auf christlichen Anschauungen beruhte. Abt Suger von Saint-Denis betont 1140 die theologische Bedeutung des Lichtes für den Kirchenbau.[10] Dieses Licht galt der Gotik als Verkörperung der lebendigen Schöpfungskraft Gottes, die in der Auferstehung Jesu aufgeleuchtet ist. Jeden Sonntag wurde in diesem besonderen Raum im Auferstehungslicht das Geschenk göttlichen Lebens in der Messe gefeiert. Wichtig war dabei vor allem, wie das Licht die Farben erhellt. Deshalb waren auch die Rysumer Fenster ursprünglich mit bemaltem Glas gefüllt, wie einige Fundstücke bei der archäologischen Grabung gezeigt haben. Wie das Licht die Farben zum Leuchten bringt, so erweckt Gottes Kraft alles zum Leben. Licht ist das zentrale Gottes-, Christus- und Heils-Symbol der aufkommenden Gotik.

In unserer Kirche kann man noch die anfänglichen Bemühungen der Baumeister dieser Zeit ablesen, die Wände aufzulösen und mehr von diesem göttlichen Licht in die Kirche zu lassen. Darin liegt die besondere kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Baudenkmals und zugleich zeigt sich, in welche europaweiten Kulturströmungen auch Friesland durch das gemeinsame Band einer christlichen Kultur eingebunden war.

Auch die Zwölfzahl der Säulen hat eine besondere Bedeutung[11]. Sie erinnert an die 12 Apostel und die 12 Stämme Israels deren Sammlung zur Vollendung der Heilszeit gehört. Außerdem ist in der Aufteilung der 12 Säulen auf drei Wände mit je vier Säulen eine weitere für die Gotik wichtige Zahlenysmbolik zu erkennen. Enthält die Zwölfzahl so doch einen Hinweis auf die vier Evangelisten und die Dreieinigkeit Gottes. Die Säulen wurden verputzt und bemalt, weil dieser Überzug zu Beginn der Backsteingotik den Baumeistern noch besser als der natürliche Stein geeignet erschien, um im Bauwerk einen übernatürlichen Eindruck als Vorgeschmack auf das himmlische Jerusalem zu erzeugen. Der Boden wurde im 13. Jahrhundert mit Klosterformatsteinen ausgelegt. Eine Vertiefung im Turmboden macht dieses alte Bodenniveau nun für die Besucher unserer Kirche wieder erlebbar. Rund um den leider nicht aufgefundenen Altar werden die in leuchtendem Naturgelb gebrannten nicht emaillierten Tonfliesen diesem Ort der Feier der Gegenwart Jesu eine besondere feierliche Würde verliehen haben. Vielleicht stammen Reste von im Turmuntergrund gefundenem massiven Schiefer von einer Platte, die den sicherlich auch gemauerten Altar einmal abgedeckt hatten.

Dass dieser schöne lichtdurchflutete Raum für die Feier der Messe, des Abendmahls, sogar im späten 16. Jahrhundert noch in besonderer Weise als Ort der Gegenwart Gottes galt, zeigt ein ganz besonderer Fund am Übergang zwischen Kirchenschiff und Chorraum: Dort wurde in dieser Zeit ein etwa achtjähriges Kind im Mittelgang begraben. Es war nachweislich an einer Mittelohrentzündung verstorben.[12] Die trauernden Eltern wollten dieses Kind an diesem Ort wohl ganz in der Nähe Gottes wissen.

Dieser besondere Raum trug ursprünglich auch eine repräsentative Gewölbedecke. Sie muss wie in vielen Kirchen in der Marsch irgendwann vor dem 16. Jahrhundert eingestürzt sein. Die anhaltenden Probleme mit der Stabilität der Wände waren ja auch der Grund dafür, dass man die schönen Fenster zugemauert und diesen Kastenchor später im Jahr 1585 [13] zu einem Glockenturm umgebaut hat. Den Ansatz des alten Gewölbes hat man jetzt wieder sichtbar gemacht.

Dort wo im Osten das Sonnenlicht als Zeichen der Auferstehung Jesu durch die Fenster fällt, hat man im 13. Jahrhundert rechts und links des zentralen Fensters zwei mächtige Tiere auf den noch nassen Putz gemalt. Links erhebt ein gefährlicher Löwe seine Pranken, rechts der Leviathan, ein Drachen-Monster aus dem Buch Hiob und Psalm 104 [14].

Die Deutung von mittelalterlichen Tierdar-stellungen ist schwierig. Hinweise ergeben sich aber durch Vergleich und durch ihre Stellung im Raum. Eine ähnliche und in etwa gleichzeitige Gegenüberstellung von Löwe und Drache gibt es in der Kirche von Campen im mittleren Gewölbe-Joch. Dort stehen die beiden Tierfiguren über den Köpfen der Gemeinde für den Kampf zwischen dem Guten und Bösen, zwischen dem, was dem Leben dient und dem, was das Leben gefährdet. Dieser Kampf spielt sich in der Gemeinde und im Leben jedes Einzelnen ab.

In Rysum werden die Tiere so auch als Machtsymbole gedeutet werden müssen, hier können die beiden Tiere an der Ostwand des Altarraums aber nicht vorrangig diese Bedeutung des Kampfes haben. Ihre erhobenen Pranken müssen hier als Anbetungshaltung verstanden werden. So zeigen diese beiden für das Mittelalter unvorstellbar mächtigen Wesen: Der hier in der Messe sich mitteilende und im Licht aus dem Osten aufscheinende auferstandene Christus ist der Herr über die mächtigsten Gewalten. Sogar diese „Ungeheuer“ beten ihn an. Er siegt über alle bedrohlichen Mächte.

Die besondere Bedeutung des Chorraumes wird auch dazu geführt haben, dass er von den Inhabern der Rysumer Herrlichkeit als Bestattungsort ausgewählt worden ist. Die archäologische Grabung hat mehrere Gräber entdeckt, konnte aber aufgrund der zahlreichen Niveauverwerfungen in den meisten Fälle keine klare Datierung geben. Bekannt ist aber, dass 1686 der bis dahin als Landmarke für die Emsschifffahrt dienende Rysumer Kirchturm mit seinem eigenartigen als „Pynapel“ benannten Helm eingestürzt ist. Aus der Herrschaftsempore stammt ein Holzteil mit der Jahreszahl 1701. Die heutige Orgelempore muss irgendwann nach dem 15. Jahrhundert an ihren heutigen Standort verlegt worden sein, wie der Fund eines Weihekreuzes aus dem 15. Jh. hinter dem Treppenaufgang zur Orgelempore zeigt. Bezieht man auch noch die Verwendung von gotischem Faltenwerk im Gestühl mit in die Betrachtung ein und den Befund der Restauratoren, dass dessen älteste nachweisbare Farbschicht frühestens aus dem 18. Jahrhundert stammt, dann ist anzunehmen, dass nicht die Folge der Reformation, sondern erst der Einsturz des Turmes zur grundlegenden Umgestaltung der Rysumer Kirche entsprechend den neuen reformatorischen Prinzipien geführt hat. Der Lettner mit der Orgel, eine emporenartige Trennwand, die bis dahin noch das Kirchenschiff vom Chor trennte, wurde zu einer einfachen Orgelwestempore umfunktioniert. An seine Stelle trat die Herrschaftsempore als neuer Abschluss des Kirchenschiffs. Der Turmraum wurde entsprechend dem neuen evangelischen Verständnis nicht mehr als besonderer Raum zur Feier des Abendmahls wieder hergestellt. Lediglich seine Bedeutung als Bestattungsort der Rysumer Herrschaft blieb erhalten, die ihn jetzt als Totenkeller ausbaute.

4. Die Entdeckung vorreformatorischer Frömmigkeit im Kirchenschiff

Galt die Gestaltung und Ausstattung des Rysumer Kirchenschiffs bislang abgesehen von Orgel und Orgelempore als eher jüngeren Datums, so wurde nun festgestellt, dass die Kanzel bereits der Reformationszeit entstammt. Bis dahin hatte man aufgrund einer alten Aktennotiz angenommen, dass sie erst aus dem Jahr 1801 stammt. Unter den Augen eines Restaurators erwies sie sich jetzt im Kern als eine Eichenholzkanzel aus dem 16. Jh. Damit haben wir ein echtes Zeugnis für den Wandel von der mittelalterlichen Frömmigkeit zum neuen evangelischen Glauben. Eine Kanzel gehörte im Mittelalter nicht notwendig zur Kirchenausstattung. Mit der Reformation wurde die Kanzel nun zum zentralen Punkt der Kirche, weil nun auch jeder Rysumer durch das Wort Gottes persönlich erreicht werden sollte.

Ab 1701 wurde dann entsprechend dieser neuen Auffassung von der Gegenwart Gottes in Wort und Sakrament in der Mitte der Gemeinde der Gottesdienstraum konsequent umgestaltet. Nicht mehr der von der Gemeinde entrückte und durch den Lettner von der Gemeinde abgetrennte Chorraum war der Ort der Verkörperung der Gegenwart Gottes: Die Rysumer Gemeinde versammelte sich nun um das Wort Gottes und den Tisch des Herrn: Emporen und Gestühl gruppieren sich jetzt im Halbkreis um Kanzel und Abendmahlstisch. Gott ist in der Mitte.

Mit der Wiederentdeckung und Rekonstruktion des ehemaligen Altarraumes hat man nun in Rysum die Abfolge vom mittelalterlichen Kirchenraumkonzept zum reformatorischen in einer Kirche sichtbar gemacht und kann hier die unterschiedlichen theologischen Motive hinter beiden Kirchenkonzepten nebeneinander verdeutlichen.

Doch sogar in diesem ganz und gar evangelisch gestalteten Kirchenschiff haben sich jetzt bei der Renovierung noch wichtige Zeugnisse vorreformatorischer Frömmigkeit aufgefunden. Und diese Ausgestaltungen des 15. Jahrhunderts zeigen – Grundgedanken der Reformation bereits deutlich vorbereitend – einen Wandel mittelalterlicher Frömmigkeit in Rysum und damit auch den kulturgeschichtlichen Hintergrund der Einrichtung der Rysumer Orgel.

Im Januar des Jahres 2008 machten sich Bauarbeiter an die Renovierung des Kirchenschiffs. Der Putz wurde von den Wänden abgeschlagen und wo sich feuchte Stellen im Mauerwerk befanden, wurden die Backsteine ausgetauscht. Kurz vor dem Übergang in den Turm fanden die Bauarbeiter auf der Friedhofseite dabei seltsamerweise einen modernen Kalkstein. Als sie den herausnahmen, um ihn wieder durch den passenden Backstein zu ersetzen, entdeckten sie dahinter einen Hohlraum und rundherum weitere moderne Kalksteine. Die mussten nun alle entfernt werden. Und siehe da: Auf einmal öffnete sich vor ihnen eine seltsame mittelalterliche Nische, die man offensichtlich in den 60iger Jahren geschlossen hatte.

Nun mag man denken: Was soll an einer Nische schon Besonderes sein? Aber man bedenke: Bis in das hohe Mittelalter hinein gab es sehr geregelte Vorstellungen für den Kirchenbau. Da machte nicht einfach Jeder, was er wollte. Man brachte also nicht einfach eine Nische an, um dort z.B. irgendwelche Regalbretter zum Abstellen von Gegenständen anzubringen, wofür man modern eine Nische nutzen würde. Mann machte das auch nicht einfach nur zur Zierde oder um dort Lampen aufzustellen oder irgend so etwas. Nein, in einer Kirche hatte alles seinen festen Sinn. Also verweist diese Nische tatsächlich auf eine besondere Nutzung.

Die Nische wurde vom Restaurator Andreas Ahlers als ein Heiliggrab identifiziert wurde. Ein Heiliges Grab ist ein Nachbau des Grabes Jesu aus Jerusalem. Denn Jesus war nicht in der Erde, sondern eben in einer Grabhöhle mit entsprechender Nische begraben worden. Den Ort seines Begräbnisses kann man heute noch in Jerusalem in der Grabeskirche besuchen. Als im 15. Jahrhundert Teile des Kirchenschiffs neu aufgemauert wurden, erhielt die Kirche wahrscheinlich die Orgel, im Turmraum einen neuen Boden mit emaillierten Fliesen rund um den Altar und darüber hinaus diesen Einbau mit den gleichen Fliesen wie im Turm als Nischenboden. Diese Nische in unserer Kirche, die zunächst nur aussieht wie irgendeine Öffnung in der Wand, ist ein Stück nachgebildetes Jerusalem mitten in Rysum.

Etwa in den gleichen Zeitraum des Errichtung dieser Heiliggrab-Nische fällt wie gesagt der Einbau der Orgel, um die sich nachweislich der Inschrift an der Orgelempore im Jahr 1513 der Wegbereiter der Reformation in Rysum, Ritter Victor Frese, gekümmert hat. Er hatte im Jahr 1489 mit Graf Enno I. und 1491 zusammen mit Graf Edzard I. zwei Pilgerreisen in das Heilige Land unternommen, zu eben dem Grab Jesu, das er durch seine Gemahlin Tetta in der Rysumer Kirche nachgebildet vorfand.[15]

Von anderen Orten her ist bekannt, wozu eine solche Heiliggrab-Nische im Mittelalter verwendet wurde. Sie diente einem Passionsspiel.[16] Die Rysumer Nische gehörte also wahrscheinlich zu einer spätmittelalterlichen Passionsinszenierung mit folgendem Ablauf: Der Bogen zwischen Kirchenschiff und Turm, wo sich jetzt die Rückseite der vorgezogenen Herrschaftsempore befindet, galt im Mittelalter von alters her in fast allen Kirchen als ein Triumphbogen für den Sieg Christi über den Tod und alles Böse. Diesen Sieg hatte Christus durch Kreuz und Auferstehung errungen. Deshalb wird auch bei uns in Rysum oben in diesem Bogen ein Kreuz mit einer Jesusfigur, ein sog. Kruzifix mit Corpus, gehangen haben.

Am Karfreitag wurde diese Jesusfigur vom Kreuz geholt und wie ein Verstorbener in die Grabnische gelegt. Dazu waren die Arme der Christusdarstellung mittels Scharnieren in den Schultern so gestaltet, dass sie an den Körper angewinkelt werden konnten. In der Rysumer Heiliggrab-Nische ist durch eine Auskerbung in der Nischenlaibung noch erkennbar, dass diese Rysumer Christusfigur offensichtlich größer war als der in der Länge der Nische vorhandene Platz [17] und vielleicht daher auch älter als die Nische und dass sie erst nachträglich für diesen Verwendungszweck umgestaltet worden ist.

Verteilt nach Familien oder Berufsgruppen werden die Rysumer dann an diesem Grab Jesu bis zum Ostermorgen Totenwache gehalten haben, wie für einen verstorbenen Angehörigen. Am Ostersonntagmorgen wurde die Jesusfigur dann als Zeichen der Auferstehung des Gekreuzigten wieder an das Kreuz gehängt, so wie der Evangelist Johannes zusammenfassend von der Verherrlichung Jesu am Kreuz spricht. Auf diese Weise hat man das ganze Geschehen der Kreuzigung Jesu in Jerusalem zwischen Karfreitag und Ostersonntag nachgespielt und miterlebt.

Dieses Nacherleben von Leiden, Tod und Auferstehung des Gottessohnes sollte den Menschen helfen, leibhaftig zu erfahren, was Gott für sie getan hat und noch tut. Jeder sollte persönlich von diesem Heiligen Geschehen ergriffen werden.

Hier wurden die Prinzipien einer im 15. Jahrhundert sich verstärkt ausbreitenden und auch für Friesland beiderseits der Ems belegten neuen Frömmigkeitsbewegung wirksam, die „devotio moderna“, moderne Gottesverehrung, genannt wurde.[18] Wichtigstes Kennzeichen dieser Bewegung war, dass hier die das Mittelalter prägende Scheidung von Klerikern, Rittern und Bauern dahin gehend aufgelöst wurde, dass das Gottschauen als Ziel aller Frömmigkeit nun nicht mehr exklusiv den Klerikern, den Mönchen, Priestern und Bischöfen vorbehalten blieb, sondern auch den Schrift und Latein unkundigen Laien mit dem Anschauen der Heiligen Geschichte des Gottessohnes die Gottesschau ermöglicht wurde. Man hat sozusagen den Glauben nicht mehr nur den Kirchenleuten überlassen. Mit diesem Bestreben zu einem persönlichen Glauben wurde im 15. Jahrhundert der Boden für die Reformation bereitet.

Die Bewegung der devotio moderna ging häufig von Klöstern aus. Und auch in Rysum könnte dabei ein Kloster eine Rolle gespielt haben. Denn das Heiliggrab in der Rysumer Kirche stand wahrscheinlich nicht isoliert, sondern bildete den Endpunkt einer Rysumer Via Dolorosa, einer Nachbildung des gesamten Leidensweges Jesu. Die Auffindung des Heiliggrabes wirft ein ganz neues Licht auf einen alten Rysumer Straßennamen und die damit verbundenen Überlieferungen.

In Rysum gibt es nämlich eine Straße mit dem Namen „Liddenweg“ – auf Hochdeutsch: „Leidensweg“.[19] Das ist ein seltsamer Name für eine Dorfstraße. Viele Orts-, Flur und Wegenamen bewahren die Erinnerung an eine frühere besondere Nutzung. Der Burgweg in Rysum führte eben zu einer alten Burg. Die Mönkehörner Lohne zu einem Stück Land, das wohl den Mönchen, also dem Kloster gehörte. Aber was ist das „Leiden“ dann für eine Nutzung?

Die Antwort auf diese Frage führt uns auf alle Fälle in längst vergangene Zeiten zurück. Drei verschiedene Deutungen dieses Wegenamens sind im Dorf bekannt. Eine Deutung im Dorf führt den Namen auf den Galgen zurück, der in der Zeit der Rysumer Herrlichkeit im Zingel an diesem Liddenweg gestanden hat. Sie lässt sich leicht als die jüngste Deutung ausschließen, weil sie unter den drei Deutungen die jüngsten geschichtlichen Erfahrungen reflektiert.

Doch im Dorf erzählte man sich früher auch die nun folgende Legende, die Ina Ross heute noch wieder zu geben weiß: Wo sich heute das Rysumer Vorwerk befindet, da lag im Mittelalter ein zum Kloster Langen gehörendes, von Mönchen bewohntes Vorwerk. Als sich vor mehr als 450 Jahren während der Reformationszeit der gerade erst entstandene Adel in Ostfriesland Kirchen- und Klostergüter zur Gewinnung einer bis dahin kaum vorhandenen wirtschaftlichen Grundlage für die angestrebte Herrschaft aneignete, da hat wohl auch die Rysumer Herrschaft dieses Land säkularisiert und den Mönchen damit das Land weg genommen, von dem sie leben mussten.

So konnte man auch die Aufgabe dieser Klosterabteilung erzwingen. Mönche wurden in einem evangelischen Kirchspiel nicht mehr gebraucht. Niemand kümmerte sich um sie. Niemand versorgte sie noch. Doch trotzig blieben die Mönche an dem Ort ihrer Arbeit und ihres Gebetes. Der Liddenweg war die Verbindung vom Kloster zum Dorf. Über diesen Weg kamen die Mönche auf die Warf. Und dabei boten sie einen erbärmlichen Eindruck: Es waren verhungerte und abgerissene Gestalten. Seitdem soll der Liddenweg den Namen tragen, benannt nach dem Leiden der Mönche.

Das ist eine anrührende Geschichte. Und da wird wohl auch Wahres dran sein. Es kann tatsächlich sein, dass die Herrschaft der Herrlichkeit Rysum die Versorgung der Mönche nach der Säkularisierung ihres Landes ablehnte und sie damit dem Hunger preis gab. Das war ein probates Mittel sie zur Arbeit oder zum Abzug zu zwingen. Doch dass der Liddenweg durch dieses einmalige Geschehen erst seinen Namen bekommen hat, ist doch unwahrscheinlich. Denn bäuerliche und dörfliche Wegenamen beziehen sich selten auf solche einmaligen Ereignisse. Diese Erklärung des Namens macht durch die Überlieferung dieser spannenden Geschichte vielmehr ganz den Eindruck, als sollte mit ihr die Erinnerung an eine viel ältere Nutzung dieses Weges überdeckt werden.

Denn es gibt noch eine andere Erklärung, die ebenfalls von älteren Rysumern überliefert worden ist und am weitesten in die Zeit zurück reicht: Es heißt, der Liddenweg war vor der Reformation im Mittelalter ein Prozessionsweg zwischen dem Kloster-Vorwerk und dem Dorf. Auf diesem Kreuzweg hat man sich in der Passionszeit an das Leiden Jesu erinnert. Auch Houtrouw erwähnt in seinen „Wanderungen“ beim Rysumer Vorwerk einen Passionsweg.[20] Er identifiziert ihn allerdings nicht mit dem Liddenweg zum Dorf, sondern mit einem sogenannten Mönkeweg zwischen Kloster Langen und dem Vorwerk. Die heute noch vorhandenen Steine des Liddenweges in der Nähe des Vorwerkes hatte Houtrouw dabei wohl auch vor Augen. Und dieser Rest des Weges nimmt in der Tat zunächst einen Verlauf in Richtung Kloster Langen. Erst nach einer Weile knickt der Liddenweg in Richtung Dorf ab. Vielleicht kam es bei Houtrouw zu der Verwechselung, weil beide Wege zunächst ein Stück zusammen liefen, bis sie sich trennten. Auf alle Fälle ist bei Houtrouw - die mündliche Rysumer Überlieferung bestätigend - von einem Passionsweg die Rede.

Solche Passionswege, oder auch Kreuz- und Leidenswege gab es im späten Mittelalter häufig und diese Passionsfrömmigkeit wurde eben insbesondere von den Klöstern gepflegt und gefördert. Bei dieser Erklärung für den Rysumer Liddenweg als Passionsweg zwischen Kloster-Vorwerk und Dorf passt alles zusammen. Und nicht zuletzt wird diese Deutung nun durch die Entdeckung des Heiligen Grabes in der Kirche bestätigt. Denn das Grab Jesu ist in Jerusalem die letzte Station der Via Dolorosa. Und Via Dolorosa wäre genau die lateinische Übersetzung des plattdeutschen Wortes Liddenweg. Es hat also eine sehr große Wahrscheinlichkeit, dass der Rysumer Liddenweg - in Nachbildung aus Jerusalem - tatsächlich eine ostfriesische Via Dolorosa war.

Die Via Dolorosa ist der nach mittelalterlicher Anschauung genau überlieferte Weg Jesu von dem Ort seiner Verurteilung durch Pontius Pilatus in der römischen Burg Antonia bis hin zu seiner Kreuzigung und Grablegung am Berg Golgatha. Vierzehn alte mittelalterliche Stationen gab es auf diesem Weg, vom Ort der Verurteilung, über die Verspottung und Folterung mit der Dornenkrone bis hin zu Kreuzigung und Grablegung. Jeder Ort, wo Jesus erschöpft zusammen gebrochen ist, wurde überliefert. Auch der Ort, wo er das schwere Kreuz nach der ganzen Folter wirklich nicht mehr selbst tragen konnte und die römischen Legionäre den Schaulustigen Simon von Kyrene zwangen, das Kreuz weiter zu tragen. So führt die Via Dolorosa bis zum Kreuzigungsberg, der von der Grabeskirche umbaut worden ist. Dort hat man genau festgehalten, wo Jesus seine Kleider ablegen musste, wo er an das Kreuz gebunden wurde, wo das Kreuz aufgerichtet wurde, wo Maria ihren toten Sohn nach der Kreuzigung in den Armen hielt und schließlich wo er begraben wurde.

Genau diese 14 Stationen der echten Via Dolorosa aus Jerusalem haben im Mittelalter vor allem Mönche in ihrer Heimat nachgebildet. So konnte auch jeder auf diesem Leidensweg pilgern, der nicht wie Victor Frese das Geld für eine Reise nach Jerusalem hatte. Der Rysumer Liddenweg ist daher wirklich etwas ganz Besonderes: Eine ostfriesische Via Dolorosa. Dieser Liddenweg begann wahrscheinlich im oder am Kloster-Vorwerk, führte entsprechend den Gewohnheiten der Zeit 14 Stationen entlang und endete eben bei dieser besonderen Nische in unserer Kirche.

Das ist für die heutigen Rysumer wirklich eine erstaunliche Entdeckung. Die Rysumer des Mittelalters sind auf ihrem Liddenweg selbst die 14 Stationen des Leidens Jesu nachgegangen. Sie haben versucht nachzuempfinden, wie der Gottessohn gelitten hat. Sie haben sich zwischen Kloster und Kirche die Geißelung und Folterung vor Augen gehalten und das Kreuztragen und die Erschöpfung Jesu. Und genauso wie in der Jerusalemer Grabeskirche haben sie in der Rysumer Kirche die Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung Jesu miterlebt.

Die Entdeckung des Rysumer Liddenweges als spätmittelalterlichen Passionsweg erklärt übrigens nun auch noch eine bislang immer unverständliche Nische an der westlichen Außenseite der Kirche. Oberhalb des Eingangs befindet sich eine Nische, die ganz große Ähnlichkeit mit der Heiliggrabnische hat. In ihr befand sich dann im 15. Jh. wohl eine bildliche Darstellung des Leidens Jesu als letzte Station vor dem Einzug in die Kirche.

Als letzte Entdeckung sollen die ebenfalls über 500 Jahre alten Weihekreuze im Kirchenschiff vorgestellt werden. Man hat fast alle der ursprünglich zwölf unter dem Putz gefunden. Durch diese Symbole, die eine Mischform aus Kreuz und Glückskleeblatt darstellen, wurde die Kirche als heilvoller Ort geweiht. Die Anordnung und Verteilung der Weihekreuze lässt den Restaurator vermuten, dass sie ursprünglich vielleicht sogar verbunden mit einem Leuchter verbunden waren - entsprechend den 12 Aposteln 12 Weihekreuze oder sogenannte Apostelleuchter.

Die Apostel waren die ersten Märtyrer, die mit ihrem Tod für die Wahrheit der Auferstehung Jesu eingetreten sind. Sie stehen nach dem Buch der Offenbarung jetzt schon am himmlischen Thron Gottes. Indem man die 12 Apostel mit den 12 Weihekreuzen in die Rysumer Kirche holte, wurde der Kirchenraum damit zu einem Stück Himmel auf Erden. Und auch diese Weihekreuze des 15. Jahrhunderts zeigen wieder wie das Heilige Grab die gegenüber dem 13. Jahrhundert geänderte religiöse Auffassung. Waren im frühgotischen Chorraum die 12 Säulen als Symbole für die 12 Apostel noch weit weg von der Gemeinde und später sogar durch einen Lettner abgetrennt, so verwandeln zwei Jahrhunderte später die Weihekreuze auch den Versammlungsraum der Gemeinde zum Ort der himmlischen Gemeinschaft mit den Aposteln. Die Auffindung dieser Weihekreuze erinnert sichtbar: Die Rysumer des Mittelalters feierten ihren Gottesdienst in der himmlischen Gemeinschaft der ersten christlichen Zeugen.

Schluß:
Alle diese neuen Entdeckungen haben Rysum die Erinnerung an seine bislang weithin wenig präsente mittelalterliche Geschichte zurück gegeben. Es zeigen sich Perspektiven zur Entstehung von Kirche und Dorf und wir gewinnen einen Blick in die Kultur und Frömmigkeit der Friesen am ausgehenden Mittelalter bis hin zu Passionsspielen und Heiligem Grab, dem Übergang zur Reformation und der Neugestaltung einer evangelisch-reformierten Kirche im 18. Jahrhundert.

Rysum, 18. Oktober 2009 Dr. Holger Balder, Pastor


Nach oben

[1] Vgl. z.B. Richard Pott, Die Nordsee. Eine Natur- und Kulturgeschichte, München 2003, S. 84; mit weiterführender Literatur.

[2] Die Chronik des E. Beninga belegt die Rysumer Orgel für das Jahr 1457: Eggerik Beninga, Chronyk van Oostfrieslandt, hg. v. Harkenroth, Emden 1732, II S. 882.

[3] Hermann Haiduck, Rekonstruktion torsohafter mittelalterlicher Kirchen im ostfriesischen Küstenraum, Emder Jahrbuch für historische Landeskunde Ostfrieslands, Band 80 – 2000, S. 7-41, hier: S. 31ff.

[4] Rolf Bärenfänger, Wolfgang Schwarz u.a., Ostfriesische Fundchronik 2006, Emder Jahrbuch für historische Landeskunde Ostfrieslands, Band 86 – 2006, S. 182-212, hier: S. 189ff.

[5] Rudolf Kötzschke (Hg.), Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr, Die Urbare vom 9.-13. Jahrhundert – Rheinische Urbare Bd. II, Bonn 1906

[6] Vgl. Franz. J. Klee, Geschichtliches und Kirchengeschichtliches aus Ostfriesland, Bd. II, Leer 1992, 99 – 110, bes. 100.

[7] Da bislang kein ausführlicher Grabungsbericht veröffentlicht wurde, sind für die lokale Geschichtsschreibung durchaus bedeutsame Kleinfunde wie dieses Holzpartikel leider nicht allgemein zugänglich dokumentiert.

[8] Johannes A. Mol, Friesische Freiheit in Kirchspiel und Kloster, in: Hajo van Lengen, Die Friesische Freiheit des Mittelalters – Leben und Legende, S. 195-245, hier: S. 202.

[9] Gottfried Kiesow, Frühgotik aus der Normandie, Monumente 9/10-2007, S.44 – 46.

[10] Günther Binding, Was ist Gotik? Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland, 1140 – 1350 mit Farbfotos von Uwe Dettmar, Darmstadt 2000, S. 51ff.

[11] Vgl. Émile Mâle, Die Gotik. Die französische Kathedrale als Gesamtkunstwerk, Stuttgart. Zürich 1994, 24

[12] Bärenfänger / Schwarz, a.a.O., S. 190.

[13] Der umlaufende Sandsteingesims des Turmes zeigt mit seiner Inschrift diese Datierung. Vgl. J.I. Harkenroth, Ostfriesische Oosprongkelykheden, Groningen 1731, 732; O.G. Houtrouw, Ostfriesland. Eine geschichtlich-ortskundige Wanderung gegen Ende der Fürstenzeit, 2 Bde., Aurich 1889/91, unveränderter Nachdruck Leer 1974, Bd. 1, 360; A. Petersen, Der mittelalterliche Dorfkirchenbau in der Krummhörn (Ostfriesland). Diss. Karlsruhe 1959, gedruckt 1963, 80.

[14] Löwe und Leviathan sind in Ps 104 Belege der Schöpfungsmacht Gottes.

[15] Klee, a.a.O., 102-103.105-107.

[16] Elisabeth Vavra, Liturgie als Inszenierung, in: Harry Kühnel (Hg.), Alltag im Spätmittelalter, Graz / Wien / Köln 1986, S. 315-322, hier: S. 318-322.

[17] Für die Nachbildung des Heiliggrabes und des Kreuzweges wurden häufig die Originalmaße aus Jerusalem verwendet.

[18] Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 77-79; Harry Kühnel, Devotio moderna – die neue Frömmigkeit, in: Kühnel, a.a.O., 111-113.

[19] Da alle im Ort bekannten Herleitungen des Namens auf das Verständnis von „Lidden“ als Leiden zurück gehen, erübrigen sich andere etymologische Ableitungen.

[20] O. G. Houtrouw, a.a.O. Bd 1, S. 366.